Krise – welche Krise?

Joachim Hirsch

Krisen wo man hinschaut: beim Klima, wo nicht nur die Hitze, sondern jetzt auch der Wassermangel droht, Inflation, Versorgungsengpässe, der Krieg (nicht nur in der Ukraine), Corona ist auch noch nicht vorbei und die Demokratie ist in Gefahr, nicht nur, wenn auch besonders deutlich in den USA. Übereinstimmend stimmen uns Politik und Medien auf harte und bedrohliche Zeiten ein. Es wird also ungemütlich, selbst in den wenigen Wohlstandsinseln des Globus. Aber wieso diese plötzliche Häufung? Besteht zwischen den diversen Krisen möglicherweise ein Zusammenhang? Und wie sieht dieser aus?

Fangen wir mit der Inflation an. Sie war schon länger vorher angelegt – wenn nicht überhaupt in gewissem Sinne vorgesehen. Dies deshalb, weil die Zentralbanken jahrelang billiges Geld in die Wirtschaft gepumpt haben mit dem Ziel, das schwache Wachstum anzukurbeln. Durch den Ukrainekrieg, die Corona-Krise, die unterbrochenen Lieferketten und die damit verbundene Nahrungs- Energie- und Rohstoffknappheit entwickelte sich auf dieser Basis eine bisher noch kaum gesehene inflationäre Dynamik. Die Politik des billigen Geldes, die auch der Rettung hochverschuldeter Staaten diente, war in Bezug auf die Ankurbelung der Wirtschaft wenig erfolgreich, aber dafür wird ein anderer Effekt wirksam: je mehr das Geld entwertet wird, desto leichter lassen sich die horrenden Staatsschulden zurückzahlen, die nicht nur durch diverse Hilfsprogramme, etwa durch Corona, sondern auch durch die massive militärische Aufrüstung – siehe das 100 Milliarden betragende „Sondervermögen“ für die Bundeswehr, wobei es sich in Wirklichkeit um einen Schuldenberg, also das Gegenteil handelt. Orwell lässt grüßen! Dafür dient wiederum der Ukrainekrieg als Rechtfertigung. Die Inflation hat darüber hinaus den Effekt, die schon längerem sich auftuende Kluft zwischen Armen und Reichen weiter zu vergrößern. Gesellschaftsspaltung also, was wiederum die Frage der Demokratie berührt.

Politiker*innen reden gerne von einer „Zeitenwende“, mit der wir es jetzt zu tun hätten. Sie meinen damit die deutlicher gewordene geopolitische Konfliktkonstellation, die durch den Gegensatz zwischen den USA bzw. der Nato, Russland und China gekennzeichnet ist und die EU wirtschaftlich und politisch in die Enge treibt. Dazu gehört auch der Ukraine-Krieg, dessen Hintergründe auch in der Auseinandersetzung zwischen den USA und China um die Weltherrschaft zu suchen sind. Immerhin hatte dieser zur Folge, dass die im Zerbröseln befindliche, von Tump als „obsolet“ und von Macron als „hirntot“ bezeichnete NATO, sich gefestigt hat, um Finnland und Schweden erweitert wurde und damit wieder zu einem funktionierenden politisch-militärischen Instrument der USA werden konnte. Dies wiederum vor dem Hintergrund ihres mit der Finanzkrise von 2008ff. eingeleiteten relativen Niedergangs, der dadurch verursachten Unfähigkeit zu einer hegemonialen, d.h. mit materiellen Konzessionen arbeitenden Politik, dem Übergang zu einer neo-imperialistischen Strategie, wodurch die Errichtung einer Russland einbeziehenden europäischen Friedensordnung unmöglich wurde.

Allerdings hat der Begriff „Zeitenwende“ noch eine ganz andere und in der Regel nicht ausgesprochene Bedeutung. Dass die zunächst inflationär aufgeschobene Wirtschaftskrise inzwischen immer deutlicher in Erscheinung tritt, verweist auf einen sehr viel weiter reichenden Zusammenhang. Er besteht darin, dass der Akkumulationsmodus, der über alle historischen Ausformungen hinweg seit der Entstehung des Kapitalismus geherrscht hat und auf der schrankenlosen Ausbeutung von Naturressourcen beruhte, jetzt an seine Grenzen stößt. Das zeigt sich nicht nur am Klima, sondern auch an der Vermüllung der Meere, der Vergiftung der Böden oder der allmählichen Verknappung wichtiger Rohstoffe. Falsch wäre indessen die Annahme, der Kapitalismus stünde deshalb vor einem Zusammenbruch. Es hat sich schon in früheren großen Krisen gezeigt, dass er sich sehr wohl auf neuer Basis reorganisieren kann, wenn die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen das zulassen.

Dem steht aktuell wenig entgegen. Da der Kapitalismus ohne „Wachstum“ nicht existieren kann, ist daher eine grundlegende Reorganisation der Gesellschaft zu erwarten, die die Akkumulation auf eine neue Basis stellt. Das wird einen Abschied von der auf Massenkonsum beruhenden Wohlstandsgesellschaft bedeuten, die im Fordismus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreicht hatte. Die Akkumulation dürfte sich neben der Rüstungsproduktion vor allem Investitionen in neue Energiegewinnungsformen und auf technische Verfahren zur Kompensation von Natur- und Umweltzerstörungen richten, mit den entsprechenden Verschiebungen in der Konstellation der Kapitalfraktionen. Rüstung erhält schon deshalb eine wachsende Bedeutung, weil wegen der zunehmenden geopolitischen Konflikte und den zu erwartenden Kämpfen um Rohstoffe weitere kriegerische Auseinandersetzungen zu erwarten sind. Der Ukraine-Krieg ist da wohl erst der Anfang. Für die Masse der Bevölkerung folgt daraus nicht nur materieller Verzicht, sondern auch eine verstärkte Reglementierung der Lebensweise, von Überwachung und Kontrolle, von administrativ durchgesetzten Geboten und Verboten. Dies deshalb, weil die Leute wohl kaum freiwillig zum Verzicht bereit sein werden. Und hier kommt Corona wieder ins Spiel. Die Corona-Krise war Anlass zu einem gewaltigen Ausbau der staatlichen wie privaten Kontroll- und Überwachungsapparatur und zugleich wurde recht erfolgreich das Bewusstsein durchgesetzt, dass der Schutz des Lebens jegliche Freiheitsbeschränkung rechtfertigt. Inzwischen würde bereits ein Drittel der deutschen Bevölkerung eine Totalüberwachung nach chinesischem Muster akzeptieren, wenn diese mit dem Schutz des Lebens begründet würde. Die ausgebaute Sicherheits- und Überwachungsapparatur trifft also auf ein gesellschaftliches Bewusstsein, das diese als sinnvoll und notwendig begreift. Es ist also eine gewissermaßen sanfte und schleichende Entwicklung hin zum autoritären Regime zu erwarten.

Damit sind wir bei der Krise der Demokratie. Die staatliche Coronapolitik hat dazu geführt, dass auch der Rechtsstaat und damit die Demokratie „infiziert“ wurden, wie Heribert Prantl das in der Süddeutschen Zeitung ausgedrückt hat. Die Demokratiekrise geht indessen tiefer und dauert schon länger. Ein Grund dafür liegt nicht zuletzt in den Folgen der neoliberalen Offensive seit den 80er Jahren, die die gesellschaftlichen Ungleichheiten massiv verstärkt hat und im Zuge von Privatisierung und Deregulierung dazu führt, dass sich viele im liberaldemokratischen Repräsentativsystem nicht mehr vertreten fühlen. Das hat wesentlich zum Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen beigetragen, eine Entwicklung, die durch einen sich ausbreitenden Staatsautoritarismus weiter gefördert wird.

Das alles sind zunächst einmal Tendenzen und wie stark sie Realität werden hängt auch davon ab, inwieweit dagegen politisch relevante gesellschaftliche Kritik mobilisiert werden kann. Diesbezüglich sieht es allerdings nicht besonders gut aus. Auffallend ist insbesondere, dass es zwar häufig Kritik an einzelnen Erscheinungen des komplexen Krisengeschehens gibt, aber seine Zusammenhänge, nämlich die grundlegenden gesellschaftlichen Reorganisationsprozesse kaum thematisiert werden. Das hängt damit zusammen, dass radikalere intellektuelle Milieus weitgehend zerfallen sind – auch dies unter anderem eine Folge von Corona, den damit verbundenen Verwirrungen und der weiter vorangetrieben Vereinzelung. Und der Ukrainekrieg hat, wie zuvor schon der Balkan- und der Irakkrieg zu Spaltungen und Kontroversen geführt, die nicht mehr behoben werden konnten. Beispielhaft für die Situation ist, dass etwa Jürgen Habermas mit seinem Apell zu politischem Realismus und Vernunft im Umgang mit dem Krieg völlig allein gelassen und der Kritik aus dem üblich gewordenen moralisierenden Lagerdenken überlassen wurde. Eine Folge davon ist, dass es auf parteipolitischer Ebene auch nicht besser aussieht. Dass die Linkspartei nicht nur erhebliche Stimmenverluste hinnehmen musste und darüber hinaus dabei ist, sich selbst zu zerfleischen hängt auch damit zusammen, dass es ihr nicht gelungen ist, angesichts einer veränderten Welt- und Krisenlage eine klare politische Position zu entwickeln. Demgegenüber erfreuen sich die GRÜNEN immer weiterer Erfolge. Sie allerdings sind die Partei, die am deutlichsten die gesellschaftlichen Konzepte vertritt, die den sich herausbildenden neuen Akkumulationsmodus kennzeichnen: „grüner“ Kapitalismus plus umwelt- und ressourcenschonender Verhaltensregulierung. Ihr Aufstieg signalisiert, dass der neue Akkumulationsmodus von den politischen Machtverhältnissen her gute Chancen hat.